Monika Held
Sommerkind
Inhalt:
Ein einsamer Junge auf einer Bank, seine Hand ruht auf einem Kleiderbündel - auf dem Grund eines Schwimmbads liegt ein Mädchen mit offenen Augen: Woher kommen plötzlich diese Erinnerungen? Die vierzigjährige Wissenschaftlerin Ragna fürchtet, verrückt zu werden. Denn die Bilder, die plötzlich in ihrem Kopf auftauchen, kann sie keiner Erinnerung zuordnen. Das Gedächtnis ist keine Bibliothek, man kann dort nicht stöbern wie nach einem verlegten Buch. Ganz langsam setzt sie Puzzleteil für Puzzleteil zusammen und macht sich auf die Suche nach dem - heute erwachsenen - Jungen auf der Bank und seiner Schwester, die nach dem Schwimmunfall zum Sommerkind wurde.
Rezension:
Ragna ist Mitte 40 und arbeitet als Gedächtnisforscherin derzeit an einem Projekt, bei dem sie die Biografien verschiedener Personen untersucht. Bei ihren Nachforschungen stellt sie fest, dass es in ihrem Leben ein weißen Fleck gibt und sie unter Erinnerungslücken an eine Zeit in ihrer Jugend leidet. Einzelne Erinnerungsfetzen dringen immer wieder an ihr Bewusstsein: Da ist ein weißblonder Junge auf einer Bank und ein jüngeres Mädchen, dass sie auf dem Grund eines Swimmingpools liegen sieht.
Kolja ist 15 Jahre alt, als seine Schwester in seinem Beisein ertrinkt. Er ist mit ihr gemeinsam in einem Schwimmbad und abgelenkt mit seiner Mitschülerin Ragna, die jedoch geistesgegenwärtig als gelernte Rettungsschwimmerin Malu aus dem Wasser ziehen kann.
Malu liegt nun im Wachkoma in einer Klinik in Süddeutschland, wo die Familie aus dem Norden hingezogen ist, und Kolja ist gezwungen, sie mindestens zweimal wöchentlich im Krankenhaus zu besuchen. Da liegt sie wie Dornröschen und er weiß nichts mit ihr anzufangen. Er fühlt sich schuldig und wird darin noch von seinen Eltern unterstützt, die ihn Zuhause mit eisigem Schweigen bestrafen. Sie besuchen Malu getrennt von ihm und bald trennen sich auch die Wege der Eltern.
"Sommerkind" erzählt einerseits den Badeunfall von Malu und die tragischen Konsequenzen für die gesamte Familie, insbesondere in der Person von Kolja und andererseits die Gegenwart, in welcher Ragna, die Lebensretterin von Malu, sich nur bruchstückhaft an den Unfall erinnert und sich auf die Suche nach ihrer Jugendliebe Kolja macht.
Während die Passagen, die Koljas Geschichte beschreiben, sehr eingängig sind und das Schicksal des Jungen, der von seinen Eltern stillschweigend verstoßen wird und sich lieber jeden Tag in eine Klink flüchtet, wo er sich mit den Mitpatienten seiner Schwester beschäftigt, tief berührt, empfand ich die Erzählung Ragnas aus der Ich-Perspektive anstrengend zu lesen. Bei ihr reihen sich oft nur einzelne Sätze scheinbar unzusammenhängend aneinander, einzelne Passagen aus Büchern, Gedichten oder Liedern, die in ihrem Kopf herumschwirren und ihre Verwirrtheit belegen.
Es ist traurig, wie die Familie Tönning mit dem Unglück umgeht und ihrem Sohn die Schuld an den Unglück und letztlich der Retterin die Schuld an der Situation Malus mit all ihren Folgen für die Familie gibt. Statt sich gegenseitig Halt zu geben, bricht die Familie in zwei Teile und Kolja hat noch als Erwachsener darunter zu leiden, flieht in die Einsamkeit.
In beide Protagonisten kann man sich gut hineinversetzen und umso enttäuschender fand ich dann das Ende der Romans, der für mich unbefriedigend aufhörte. Auch wenn Ragna ihre Erinnerungslücken durch Fahrten in ihre alte Heimat sowie nach Süddeutschland und die dort geführten Gespräche wieder füllen konnte, fehlte mir bei ihrer Suche letztendlich das Erfolgserlebnis und ein runder Abschluss des Romans. Darüber hinaus fehlte mir eine logische Erklärung für ihre partielle Amnesie (?), wie ihre Jugendliebe so in Vergessenheit geraten konnte und warum sie 30 Jahre später mit einer Suche nach ihm beginnt.
Kolja erschien mir sehr authentisch, weshalb ich sein Schicksal eines traumatisierten Jungen als besonders bewegend empfand, gerade weil es schien, als würde er als selbstauferlegte Strafe auch als Erwachsener kein Glück für sich zulassen.
Der Roman thematisiert Menschen im Wachkoma und welche Folgen das apallische Syndrom für die Patienten, aber vor allem auch die Familienangehörigen hat und wie belastend die lebenslange Pflege eines leblos wirkenden Menschen für die Angehörigen ist. Gleichzeitig wird auch die Frage nach der Schuld gestellt und ob es für das Kind tatsächlich ein Glück war, gerettet werden zu können und was ein Leben lebenswert macht. Auf der anderen Seite wird aber auch dargestellt, welchen Halt Freunde geben können und wie wichtig es ist, in solchen Situationen nicht allein gelassen zu werden.
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