Mittwoch, 20. September 2017

Buchrezension: Lize Spit - Und es schmilzt

Lize Spit

Und es schmilzt


Inhalt:

Mit geschlossenen Augen hätte Eva damals den Weg zu Pims Bauernhof radeln können. Sie könnte es heute noch, obwohl sie viele Jahre nicht in Bovenmeer gewesen ist. Hier wurde sie zwischen Rapsfeldern und Pferdekoppeln erwachsen. Hier liegt auch die Wurzel all ihrer aufgestauten Traurigkeit.
Dreizehn Jahre nach dem Sommer, an den sie nie wieder zu denken wagte, kehrt Eva zurück in ihr Dorf – mit einem großen Eisblock im Kofferraum.


Rezension:

Eva erhält eine Einladung in ihr Heimatdorf Bovenmeer, wo sie zuletzt vor neun Jahren war. Es soll der Geburtstag von Jan gefeiert werden, der in diesem Jahr 30 Jahre alt geworden wäre. Jan ist der ältere Bruder von Pim gewesen, einer der "drei Musketiere", mit dem Eva ihre Kindheit und Jugend zusammen mit Laurens verbracht hat. 
Eva wohnt inzwischen in Brüssel, wohin sie ursprünglich für ein Architekturstudium hingezogen ist. Der Umzug kam aber auch einer Flucht aus einer Familie gleich, die von zwei alkoholkranken Eltern, einem depressiven Vater und der an einer Zwangsstörung leidenden kleinen Schwester Tesje geprägt war. 

Während ihrer Rückkehr nach Bovenmeer erinnert sich Eva an ihre Kindheit, insbesondere an den Sommer 2002, als sie 14 Jahre alt ist, ihre Freundschaft mit Pim und Laurens und das Leben als vernachlässigte Tochter, die mit der ständigen Angst aufwachsen musste, dass sie ihre Eltern tot auffinden könnte und die ein permanentes schlechtes Gewissen aufgrund ihrer verwahrlosten Schwester haben musste. 

Der Roman ist sehr nüchtern geschrieben und geht dennoch unter die Haut, da man zwischen den Zeilen durchweg mit den Schuldgefühlen eines Mädchens konfrontiert wird, die außer Pim und Laurens keine Freunde hatte. Im Vergleich zu den anderen Mädchen im Dorf fühlt sie sich hässlich und dick, bezeichnet sich selbst als das Mädchen mit den "Elefantenbeinen". Die beiden Jungs nutzen sie bei ihren Spielchen, die als Pubertierende ausschließlich sexueller Art waren als ihre Schiedsrichterin im Kontakt mit den anderen Mädchen aus. 

[Achtung Spoiler]

Neben Spielchen, sich voreinander auszuziehen und sich gegenseitig die Geschlechtsteile zu zeigen oder dem "Wahrheit oder Pflicht"-Spiel, bei dem mitunter Tiere in Mitleidenschaft gezogen werden, grenzt die Konsequenz aus dem Punktesystem für Mädchen, das die Jungs für die Dorfjugend erstellen, an sexuellen Missbrauch. So wird Eva genötigt, sich ein Rätsel für die anderen Mädchen auszudenken, das sie - in der Hoffnung 200 € für die Lösung zu erlangen - mitspielen, wobei sie sich für jede falsche Antwort eines Kleidungsstücks entledigen oder sich von Pim und Laurens anfassen lassen müssen. Dass am Ende immer nur die Jungs siegreich hervorgehen, ist Eva zwar bewusst, unterstützt diese sexuelle Ausbeute aber viel zu lange, bis sie ihr selbst zum Verhängnis wird. 

[Spoiler Ende]

Der Roman schockiert, weshalb die vom Verlag angegebene Beschreibung "Ein Buch, das alles gibt und alles verlangt" wirklich zutreffend ist. Man leidet mit Eva und ihrer ausweglosen Situation mit und kann nur fassungslos weiterlesen, wie sie sich auf der Suche nach Liebe, Freundschaft und ein bisschen Anerkennung auf Dinge einlässt, die über Jugendsünden weit hinausgehen. Es ist ein Drama, das unter die Haut geht und nichts für zartbesaitete Nerven ist. 
Das Buch ist nicht ganz einfach zu lesen, da auch während der Erinnerungen Evas immer wieder zwischen den Zeiten gesprungen wird. Der Schreibstil ist allerdings sehr eingehend und spannend, dass man in der Erahnung einer finalen Katastrophe, die zugegebenermaßen lange hinausgezögert wird, immer weiterlesen muss. 

Die Autorin wagt sich mit ihrem Debütroman an die Grenzen des Sagbaren, weshalb der Roman sehr kontrovers diskutiert wird. Auch meiner Meinung kann man dem Inhalt nichts Positives abgewinnen, aber gerade die emotionslose Schilderung einer scheinbar ganz normalen Freundschaft in einer Nachbarschaft, die überall sein könnte, machen es zu einem schockierenden, lesenswerten Psychodrama und schon jetzt zu einem meiner Lesehighlights des Jahres. 



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